Warum ein Totschlag schon etwas mit dem Kirchgang zu tun hat …

In diesem Brief macht sich Pfarrer Martin Gedanken über die heute oft fehlende Sozialisierung in Gruppen in der Kindheit und welchen Unterschied das für das spätere Zusammenleben ergeben kann.


Ich schreibe hier als ein Pfarrer einer katholischen Pfarrgemeinde. Das Glück war mit mir: In einer katholischen Familie aufgewachsen, habe ich den christlichen Glauben und die Kirche positiv erlebt. Der notwendige Kirchgang als Kind hat mir beigebracht, dass von nichts nix kommt. Dass der Glaube an Gott dann in mir wächst, wenn ich ihm Zeit schenke.

Als Jugendliche haben wir in den Jugendstunden alle Themen dieser Welt besprochen: die Todesstrafe, Suizid, Abtreibung, Atomenergie und Atomwaffen, Entwicklungshilfe für die Dritte-Welt-Länder. Wir waren oft gemeinsam unterwegs, sind zum Konzentrationslager in den Nachbarort geradelt, haben Fair-Trade-Produkte eingekauft und verkauft, haben uns im Kino „Steiner – das eiserne Kreuz“ angesehen. In der Jugendgruppe haben sich einige ineinander verliebt; andere haben einander nicht ausstehen können; es gab Ärger und Begeisterung, Neid und Gelassenheit, Dienst und Geltungssucht. In allem aber waren wir die Jugend der Pfarrgemeinde, darum gingen wir sonntags in die Kirche und zu Ostern zur Beichte.

Später bin ich selber Pfarrer geworden und ich habe das große Glück, dass es Jungschar und Jugendgruppen in der Pfarre gibt. Was ich beobachte: Die Kinder lernen, ihr Ego zurückzustellen. sie lernen es nicht von sich aus. Die Gruppe fordert es ein. Die Kinder untereinander korrigieren sich. Spätestens in der Jugendgruppe wird ausgesprochen: Du kannst dich nicht gehen lassen, du kannst deinen Emotionen nicht freien Lauf lassen. Deine Freiheit hört auf, wo der Mitmensch eingeschränkt wird.

Heute kann man es gut benennen und sagt, dass es eine Frustrationstoleranz braucht. Der Mensch „muss“ lernen, seine innere Energie in den Griff zu bekommen, zu steuern. Den guten Umgang damit nennt man dann „Sozialkompetenz“. Jede christliche Pfarrgemeinde ist ein Übungsfeld dafür. Das Miteinander von Jung und Alt; das Helfen, auch wenn die eigene Freizeit weniger wird; das Bemühen um einen freundlichen Umgangston.

Ohne Einübung kein Ergebnis. Wenn es im Leben hart auf hart kommt; wenn Fehler gemacht werden, wenn „man aus der Haut fahren möchte“, dann bewährt sich das Eingeübte. Dann ist innere Kraft da. Sie hat aber eine Quelle, die nicht menschengemacht ist. Sie hat Gott als Kern. Dieser Glaube hält mir die Hand zurück, wenn ich zuschlagen möchte. Diese Gewissheit des Glaubens streckt meine Hand aus, wenn jemand Hilfe braucht.

Wenn ich in der Zeitung lese: „Mann erschlägt Frau aus Eifersucht; Ex-Partner bedroht Familie; Familie verklagt sich gegenseitig wegen Erbe“, dann kommen mir die Jungscharstunden in den Sinn. Innerlich danke ich den vielen Ehrenamtlichen, die sich mühen mit Kindern und Jugendlichen christliche Lösungen für Konflikte zu entwerfen und die ihnen beibringen, die Frustrationstoleranz höher zu schrauben. Alleine und aus eigener Kraft ist das nicht zu schaffen. Ohne die Hilfe von oben geht das nicht. Darum gehört zum Spiel in der Gruppe auch der Kirchgang.

Pfarrer Martin Rupprecht