Wenn Ihre Nachbarin heute bei Ihnen läuten und fragen würde: „Kannst du mir eine Bibel borgen?“, was wäre dann Ihre Antwort? Vielleicht „Ui, wo hab ich die denn überhaupt?“ Oder „Die war schon so alt und vergilbt, dass ich sie zum Flohmarkt gegeben habe.“ Oder: „Die steht seit Jahr und Tag im Bücherregal. Die muss ich zuerst abstauben, bevor ich sie ihr geben kann.“ Aber vielleicht wäre die Antwort ja eine ganz andere, wie z.B. „Du kannst meine Bibel für heute gerne haben, aber morgen hätte ich sie gern wieder, weil ich jeden Tag das Tagesevangelium lese.“ Oder „Ich habe mehrere Bibelübersetzungen, weil ich beim Lesen gerne vergleiche. Du kannst gerne eine davon haben.“ Oder „Schön, dass du in der Bibel lesen willst. Für mich sind die Worte der Heiligen Schrift auch ganz wichtig. Vielleicht wollen wir ja mal gemeinsam eine Stelle lesen und darüber reden!“
Jede und jeder von uns hat eine ganz eigene Beziehung zur Heiligen Schrift. Manche führen eine Wochenendbeziehung mit dem Wort Gottes und hören es nur am Sonntag im Gottesdienst, anderen ist es vertraut wie ein geliebter Mensch. Sie schöpfen Kraft und Bestärkung aus dem Meditieren der biblischen Worte.
Eine Gemeindeordnung aus der Zeit der ersten Christinnen und Christen berichtet, dass sich Gläubige jeden Morgen, bevor sie zur Arbeit gingen, in den Häusern in kleinen Gemeinschaften zum Hören des Wortes Gottes und zum Gebet zusammenfanden.
Das 2. Vatikanische Konzil bekräftigt, dass die Kirche das Wort Gottes immer so verehrt hat wie den Leib Christi selbst (vgl. Dei Verbum, Nr. 21). Nicht nur am Tisch des Brotes – also bei der Eucharistiefeier – werden wir satt. Auch am Tisch des Wortes, wo wir durch Christus in den Worten der Heiligen Schrift mit Gott in Beziehung treten. Wir „kommunizieren“ also nicht nur beim Empfang des Leibes Christi, sondern wir kommunizieren mit Gott im Hören, im Lesen der Heiligen Schrift und im Antworten darauf. So heißt es auch im Alten und im Neuen Testament: „Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“
Kann ich mir das vorstellen, dass ich das Wort Gottes zum Leben brauche wie das tägliche Brot?
Bei meiner letzten Gesundenuntersuchung hat mich der Arzt eindringlich beschworen, täglich zu frühstücken. „Frau Wasserbauer, das Frühstück ist wichtig, um gut in den Tag zu starten, um ausreichend Nährstoffe und Vitamine aufzunehmen. Ihr Immunsystem wird stärker werden, wenn Sie wieder regelmäßiger frühstücken!“, so hat der Arzt zu mir gesagt. Was sagt wohl Jesus, der Arzt unserer Seele, wenn wir ihn fragen, was wir tun sollen, um geistlich gesund und heil zu werden? Ich bin sicher, er empfiehlt und das Wort Gottes als Medizin. In Joh 6,63 sagt er seinen Jünger*innen und uns: „Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben.“ Sie geben uns also Lebenskraft, Begeisterung, Trost, Stärkung. Die genaue Dosis, die Jesus jeder und jedem von uns verordnet, ist sicher sehr unterschiedlich. Da ist es gut, wenn wir in uns hineinhören, um wahrzunehmen, was für uns heilsam ist. Mir hilft das Lesen in der Bibel in der Früh, um gut in den Tag starten zu können, so wie mir der Arzt das tägliche Frühstück sehr geraten hat. Also lese ich das Evangelium vom Tag noch bevor ich aufstehe im Bett und versuche, mir einen Satz oder ein Wort, das mich stärkt, für den Tag mitzunehmen, um es dann tagsüber in Gedanken immer wieder zu wiederholen. Für andere ist das Tischgebet vor dem Mittagessen der Moment, um eine Bibelstelle vorzulesen und sich auch geistlich zu stärken. Wieder andere bevorzugen die Ruhe des Abends, um eine Bibelstelle zu meditieren. So verschieden wir Menschen sind, so unterschiedlich ist auch die Rezeptur. Was allen Christinnen und Christen gemeinsam ist: Um in Beziehung mit Gott leben zu können, brauchen wir das Wort Gottes. So wie es keinen Menschen gibt, der ohne Nahrung leben kann, so gibt es auch keinen Christen, der ohne Gottes Wort leben kann.
Simon Petrus hat das erkannt. Er sagt zu Jesus: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“ (Joh 6,68) Nirgends sonst wird unsere Seele so genährt wie durch das Wort Gottes. Vielleicht haben auch Sie das schon erfahren:
Haben Sie selber ein Lieblings-Bibelwort, das für Sie persönlich voller Geist und Leben ist, das Sie mit einer wichtigen Erfahrung verbinden?
Vielleicht eines, das Sie schon länger durch Ihr Leben begleitet und Sie im Alltag oder in Krisenzeiten immer wieder stärkt? Wenn es so eine Bibelstelle für Sie gibt, dann wiederholen Sie sie immer wieder in Gedanken! Die Wüstenväter haben vom „Wiederkäuen“ der Worte gesprochen. Wie eine Kuh die Nahrung immer wiederkäut und sich dadurch stärkt, so haben die Mönche während der Arbeit ein und denselben Satz aus der Bibel in Gedanken ständig wiederholt und daraus Nahrung für ihre Seele gewonnen.
Ich möchte Sie ermutigen, das auch zu versuchen. Wenn Sie einen Lieblingssatz in der Bibel haben, dann nehmen Sie ihn und wiederholen Sie ihn im Alltag. Wenn Sie noch keinen Bibelvers haben, der Ihnen Kraft und Trost gibt, dann werden Sie beim Lesen in der Bibel im Laufe der Zeit sicher auf so einen Satz stoßen.
Ich wünsche uns allen die Gewissheit, das Vertrauen und die Entschiedenheit des Petrus, aus tiefstem Herzen zu Gott sagen zu können “Du hast Worte des Lebens für mich!”.
Petra Wasserbauer