Impuls zur 3. Fastenwoche: Vergebung
„Ich wünschte, ich hätte nicht bis zum Schluss damit gewartet!“, sagen Menschen oft am Sterbebett.
Worauf sich das nicht-bis-zum-Schluss-Warten bezieht, ist sehr unterschiedlich. Oft aber geht es darum, dass Sterbende merken, dass sie sich in ihrem Leben so an ihre Arbeit, den Besitz, bestimmte Menschen, Situationen oder Gefühle gekrallt haben, dass sie unfrei und damit unglücklich wurden. Je mehr wir im Leben das Loslassen üben, desto leichter wird das „große Loslassen“ am Ende sein. Alle großen Religionen sehen das Loslassenkönnen als das wichtigste Ziel des Lebens. Die klassischen spirituellen Disziplinen Gebet, Fasten und Almosengeben sind Einübung ins Loslassen – und damit Einübung ins Sterben. Zugleich ist Loslassen etwas sehr Lebenszugewandtes. Es ist die Bereitschaft zu Neuem. Ins Staunen kommen, Neues entdecken kann ich nur, wenn ich Altes, Liebgewordenes loslasse, nicht nur Materielles.
Und genau dazu lädt uns ja die Fastenzeit mit ihrer Aufforderung zum Verzicht ein: Nichts festhalten wollen. Sich nicht festkrallen im Haben.
Diese Woche wollen wir vor allem in den Blick nehmen, wie wir innerlich frei werden, wenn wir unseren Groll über erlebtes Unrecht loslassen. Oft kehrt man die eigene Wut, Zort, Ärger lieber unter den Teppich als sich ihnen zu stellen. Über Jahrzehnte decken wir wegen der unangenehmen Gefühle Konflikte zu anstatt sich ihnen zu stellen, unsere Wunden freizulegen und damit heilen zu lassen.
Aber spätestens am Ende des Lebens drängen sie an die Oberfläche und wollen zugelassen werden. Frank Ostaseski hat es in seiner jahrzehntelanger Hospizarbeit unzählige Male erlebt. Seine Einladung an uns, die wir mitten im Leben stehen: „Warten Sie nicht bis zum Ende damit, Ihren Groll loszulassen!“ Er zitiert Martin Luther King jr., der sagte: „Vergebung ist keine einmalige Sache, Vergebung ist ein Lebensstil.“ Vergebung meint nicht vergessen, es heißt auch nicht etwas gut zu heißen, dass mir angetan wurde. Im Gegenteil: Damit ich vergeben kann, muss ich den Schmerz zuerst zulassen und anschauen, vielleicht auch ansprechen. Dann erst kann Heilung geschehen.
Vergebung heilt uns, weil sie uns ermöglicht alten Schmerz abzulegen und sie hilft uns, uns für die Liebe zu öffnen. Es dient nicht unserem Wohl, wenn wir an unserem Schmerz festhalten. Wenn ich nachtragend bin, dann schleppe ich ja die schwere Last und trage sie dem anderen nach.
Oder in einem anderen Bild gesprochen: Sich gegen die Vergebung zu sträuben ist, als würde man sich ein Stück heiße Kohle nehmen und zu ihr sagen: „Ich lasse dich nicht los, bis du dich entschuldigst und für das bezahlst, was du mir angetan hast!“ Während wir andere strafen wollen, verbrennen wir uns selbst. Somit ist alle Vergebung Selbstvergebung. Es ist eine bemerkenswerte Form der Selbstakzeptanz, die uns ermöglicht, Schmerz loszulassen, um im Bild zu bleiben: die heiße Kohle unserer Wut, unseres Grolls loszulassen oder den schweren Stein, den wir anderen nachtragen. Was hier in ein paar Sätze abgehandelt wird, kann oft Jahrzehnte dauern.
Wenn Jesus uns auffordert, siebzigmal siebenmal zu vergeben, dann zeigt das seinen Realismus: Ein einmaliger Akt der Vergebung wird nicht reichen. Der Groll kommt immer wieder hoch, aber je öfter wir ihn wahrnehmen, zulassen, aber dann auch wieder bewusst loslassen und dem Menschen, der uns verletzt hat, innerlich Vergebung zusprechen, desto besser können unsere Wunden heilen. Dann erst werden wir frei. Warten wir damit nicht bis zum Sterbebett!
Wer hat mich in meinem Leben verletzt?
Welchen Schmerz möchte ich loslassen und einen Akt der Vergebung setzen?
Bin ich schuldig geworden und wünsche mir Vergebung?
Petra Wasserbauer